Wenn keiner deine Geschichte kennt
Das Bundesprogramm „Demokratie leben“ fördert verschiedene Projekte in
Aue-Bad Schlema, Schneeberg und Lößnitz. Die freie Journalistin Katja
Lippmann-Wagner begleitet ausgewählte Veranstaltungen und berichtet
darüber. Heute: „Raus aus dem Alltag – rein in den Wald“ des Regenbogenbus e.V.
Unvoreingenommen sein. Sich kennenlernen ohne Blockade im Kopf.
Defizite einfach weglachen. Es hört sich so einfach an, doch im Alltag
ist es manchmal ganz schön schwer. Da bekommen Kinder, die eine
Förderschule besuchen, sehr schnell einen Stempel aufgedrückt.
Da werden Begegnungen auf Augenhöhe schwierig, weil sie doch „anders“
sind. Der Regenbogenbus e.V., in dessen Trägerschaft sich auch die
Schulsozialarbeit an der Oberschule Bergstadt Schneeberg befindet, hat
sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Beim Projekt „Raus aus
dem Alltag – rein in den Wald“, das Oberschüler und Förderschüler aus
Annaberg, Sehmatal, Oelsnitz und eben Schneeberg zusammenführte,
wurden Mauern nicht eingestoßen, sondern gar nicht erst aufgebaut.
Drei Tage lang ging es für 15 Kinder aus den vier genannten Schulen zu
einem unvergesslichen Ferienaufenthalt ins Hollandheim Waschleithe.
Die Kinder wussten nicht, welche Geschichten ihre Gegenüber haben.
Es war egal, ob sie gute Schüler sind, ADHS
(Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) haben, aus gut
situierten Elternhäusern oder einer Großfamilie kommen. „Sie sollten
vorurteilsfrei einsteigen, keine Hemmungen im Umgang miteinander
aufkommen lassen und raus aus dem gewohnten Alltag kommen“, erzählt
Susann Bethke. Die Bedingungen im Hollandheim seien Top gewesen – ab
vom Schuss, wie man so schön sagt. „Wir hatten uns das extra so
herausgesucht“, verrät Bethke. Fünf Schüler aus Schneeberg
durften mitfahren. Nachdem Ort und Termin feststanden, war die
Nachfrage größer als das Angebot.
In Waschleithe habe am ersten Tag das gegenseitige Kennenlernen im
Mittelpunkt gestanden. Alle Entscheidungen wurden demokratisch
getroffen. Anne Urban war auch Wochen nach dem Aufenthalt noch
begeistert: „Mir hat alles Spaß gemacht. Bei der Nachwanderung hatte
ich aber auch ein bisschen Angst.“ Schließlich mussten die Kinder
dabei an ihre Grenzen gehen. Zwanzig Meter allein durch die Dunkelheit
war schon eine besondere Herausforderung für viele. Schon am zweiten
Tag hatte Anne neue Freunde gefunden. „Zwei Jungs, die richtig lustig
waren“, sagt das Mädchen. Emily Huschmann fühlte sich in Waschleithe
ebenfalls sehr wohl: „“Wir haben Kennenlernspiele gemacht und Schönes
unternommen.“ Obwohl sie sich selbst als sehr zurückhaltend
einschätzt, seien neue Freundschaften entstanden. Ähnliche Erfahrungen
hat auch Lennox Werner gemacht. „Ich habe mich schnell mit mehreren
vertragen.“ Die Kontakte allerdings seien nicht von Bestand gewesen
und nach dem Aufenthalt wieder eingeschlafen. Die Begegnung mit der
Natur und die Wissensvermittlung auf lockere Weise fand Oskar Fiebig
richtig „cool“. Er sagt: „Wir haben Maulwurf, Eichhörnchen und
Wildschwein gesehen.“ Natürlich seien die Tiere nicht lebendig
gewesen. Susann Bethke findet, dass der Aufenthalt den Kindern sehr
viel gegeben hat. Das Handy habe in den Tagen beispielsweise eine
völlig untergeordnete Rolle gespielt. Dafür waren in einer
Achtsamkeits-Challenge Sinne, wie Riechen und Hören gefragt sowie
Teamwork und Vertrauen gefördert. Zum Resümee gehört aber auch, dass
drei Tage letztendlich recht kurz waren und Denkanstöße lediglich
angeschoben werden konnten. Doch auf jeden Fall seien ähnliche
Projekte eine Überlegung wert.